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Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien


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Schriftkulturelle Ressourcen und Barrieren bei marokkanischen Kindern in Deutschland

Förderung: Stiftung Volkswagenwerk

Laufzeit: 1999-2002

Projektleitung und -bearbeitung: Prof. Dr. Utz Maas, Dr. Ulrich Mehlem

Die Mehrheit der marokkanischen Einwanderer in Deutschland stammt aus dem östlichen Rif und spricht eine Variante des Berberischen, Tarifit, als Muttersprache. Ihre Kinder wachsen mit dieser Sprache und Deutsch als häufig dominanter Zweitsprache auf. In der Moschee und im muttersprachlichen Unterricht kommen sie auch mit der offiziellen Sprache Marokkos, dem Hocharabischen, in Berührung. Viele marokkanischen Kinder der zweiten und dritten Generation haben Schwierigkeiten bei der Aneignung der deutschen Schriftsprache, die sich u.a. in einer besonders ungünstigen Verteilung im deutschen Schulsystem niederschlagen. Das Projekt untersucht die Zusammenhänge zwischen der Aneignung von Schriftkultur und der komplexen mehrsprachigen Ausgangssituation dieser Kinder mit dem Ziel, die sprachlichen Ressourcen, über die marokkanische Kinder verfügen und die sie zum Erwerb schriftsprachlicher Fähigkeiten nutzen können, aber auch die Barrieren, die einer Übertragung ihres sprachlichen Wissens vom Mündlichen auf das Schriftliche entgegenstehen, umfassend zu explorieren. Der Ansatz berücksichtigt insbesondere

  • die relative Selbständigkeit der Schriftsprache, über deren Aneignung keine direkten Rückschlüsse aus der gesprochenen Sprache gezogen werden können.
  • den Zusammenhang von formaler Sprachbeherrschung (Kenntnis sprachlicher Formen und Strukturen) und der Nutzung ihrer kommunikativen Funktionen in unterschiedlichen Registern (mündliche Nacherzählung, Beschreibung, informelles Gespräch)
  • die sozio-kulturellen Einflüsse, die aus der Bedeutung der Schrift in der marokkanisch-islamischen Kultur resultieren und die sich in bestimmten Einstellungen und Umgangsformen mit schriftlichen Texten - auch bei den marokkanischen Familien in Deutschland - niederschlagen.

mehr Informationen zum Projekt

Publikationen:

Utz Maas/Ulrich Mehlem, Schriftkulturelle Ressourcen und Barrieren bei marokkanischen Kindern in Deutschland. Abschlußbericht des Projekts „Schriftkulturelle Ressourcen und Barrieren bei marokkanischen Kindern in Deutschland“. IMIS (Materialien zur Migrationsforschung, Bd. 1), Osnabrück 2003, 610 S., pdf-download: Teil 1  -  Teil 2  -  Teil 3  -  Teil 4.

Ulrich Mehlem, Typologie sociolinguistique d'éléves marocains en Allemagne, in: Mohamed Tilmatine (Hg.), Enseignement des langues d'origine et immigration nord-africaine en Europe: Langue maternelle ou langue d'Etat?, Paris 1997, S. 141-160.

Utz Maas/Bernhard Hurch, Morphoprosodie des marokkanischen Arabischen, in: Folia linguistica, 32. 1998, S. 239-263.

Ulrich Mehlem, Zweisprachigkeit marokkanischer Kinder in Deutschland. Untersuchungen zu Sprachgebrauch, Spracheinstellungen und Sprachkompetenzen marokkanischer Kinder in Deutschland. Frankfurt, Berlin, Bern 1998.

Utz Maas/Ulrich Mehlem, Sprache und Migration in Marokko und in der marokkanischen Migration in Deutschland, in: IMIS Beiträge 11 / 1999, S. 65-105.

Utz Maas, Die Entwicklung des neuarabischen Verbalsystems am Beispiel am Beispiel des Marokkanischen, in: Lutz Edzard/Mohamed Nekroumi (Hg.), Tradition and Innovation. Norm and Deviation in Arabic and Semitic Linguistics, Wiesbaden 1999, S. 124-167.

Utz Maas, Maroccan: A Language in Emergence, in Jonathan Owens (Hg.), Arabic as a Minority Language, Berlin 2000, S. 383-404.

Utz Maas/El-Sayed Madbouly Selmy/Mostafa Ahmed Ahmed (Hg.), Perspektiven eines typologisch orientierten Sprachvergleichs Deutsch-Arabisch/Arabisch-Deutsch, Kairo 2000.

Utz Maas/Ulrich Mehlem, Schriftkulturelle Ressourcen und Barrieren bei marokkanischen Kindern in Deutschland. La culture écrite des enfants marocaines en Allemagne: ressources et obstacles. Zweiter Zwischenbericht des Projekts und Dokumentation des Materials für die Konferenz "Dynamiken der Sprachentwicklung an der Universität Osnabrück, 30.6.-1.7.2000.

Ulrich Mehlem, Structures de temporalité dans les narrations des élèves marocains en Allemagne: le passage de l'oral à l'écrit, in: Languages and Linguistics, 8. 2001, Fes: Université Sidi Mohamed Ben Abdellah, S. 133-151.

Ulrich Mehlem, Die Nutzung orthographischer Strukturen des Deutschen in der Verschriftung familiensprachlicher Texte durch marokkanische Migrantenkinder, in: Christa Röber-Siekmeyer/Doris Tophinke (Hg.), Schrifterwerbskonzepte zwischen Sprachwissenschaft und Pädagogik, Hohengehren 2001, S. 123-143.

Utz Maas/Ulrich Mehlem: Schriftkulturelle Probleme der Migration: Kinder marokkanischer Einwanderer in Deutschland, in: Jochen Oltmer (Hg.), Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS-Schriften, Bd. 11), Osnabrück 2002, S. 333-366.

Ulrich Mehlem, Experiment Muttersprache. Marokkanische Kinder schreiben Berberisch und Arabisch in Deutschland, in: Jürgen Erfurt/G. Budach/S. Hofmann (Hg.), Mehrsprachigkeit – Migration – Schule, Frankfurt/Berlin 2003, S. 103-118.

Ulrich Mehlem, Kasusmarkierungen in Verschriftungen mündlicher Nacherzählungen bei marokkanischen Migrantenkindern, in: Gesa Siebert-Ott/Ursula Bredel/Tobias Thelen (Hg.), Schrifterwerb und Orthographie, Hohengehren 2004, S. 162-188.

Michael Bommes/Utz Maas, Interdisciplinarity in Migration Research – on the Relation between Sociology and Linguistics, in: Michael Bommes/Ewa Morawska (Hg.), International Migration Research – Constructions, Omissions and the Promises of Interdisciplinarity, Aldershot 2005, S. 179-202.

Pressemitteilung (2003) zu den Projekten:

"Schriftkulturelle Ausdrucksformen der Identitätsbildung bei marokkanischen Kindern und Jugendlichen in Marokko" (Neubewilligung) und "Schriftkulturelle Ressourcen und Barrieren bei marokkanischen Kindern in Deutschland" (bereits abgeschlossen):

"An der Universität Osnabrück befaßt sich das Fachgebiet Sprachwissenschaft in Verbindung mit dem Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien (IMIS) insbesondere auch mit den sprachlichen Verhältnissen in Nordafrika und den Folgen der Migration von dort nach Deutschland. Für diesen Forschungsbereich hat die Volkswagenstiftung jetzt die Mittel für ein neues Forschungsprojekt "Schriftkulturelle Ausdrucksformen der Identitätsbildung bei marokkanischen Kindern und Jugendlichen in Marokko" bewilligt, das im Herbst d. J. in Zusammenarbeit mit marokkanischen Kollegen die Arbeit aufnehmen wird (Leitung: Prof. Dr. Utz Maas). Zur Vorbereitung der Projektarbeit war im Juli d.J. Prof. Dr. Mohamed Elmedlaoui (Univ. Oujda, Marokko) mit Unterstützung des Nieders. Wissenschaftsministeriums an der Universität Osnabrück. Im Projekt werden neben dem Arabisten- und Islamwissenschaftler Dr. Ulrich Mehlem eine Reihe von deutschen und marokkanischen Forschungsassistenten tätig sein.

Damit werden die Forschungen in einem vorausgehenden, ebenfalls von der Volkswagenstiftung geförderten Projekt zu den "Schriftkulturellen Ressourcen und Barrieren bei marokkanischen Kindern in Deutschland" fortgeführt. Dort wurden mit der umgekehrten Blickrichtung die sprachlichen Leistungen von Kindern marokkanischer Einwanderer untersucht, sowohl im Deutschen wie in den jeweiligen Muttersprachen (marokkanisches Arabisch oder marokkanisches Berberisch), jeweils im Mündlichen wie im Schriftlichen. Diese Untersuchung wurde in zwei Orten mit größeren marokkanischen Bevölkerungsanteilen im Ruhrgebiet und im Rheinland durchgeführt, mit zwei Kontrolluntersuchungen: einerseits zu den vergleichbaren Leistungen von gleichaltrigen muttersprachlichen Deutschsprechern, andererseits von muttersprachlichen Marokkanern in Marokko (sowohl im Arabischen wie im Berberischen).

Die Ergebnisse dieses inzwischen abgeschlossenen Projektes erhalten eine besondere Bedeutung vor dem Hintergrund der laufenden Diskussion um die Evaluierung schulischer Förderung auf der einen Seite (ausgehend von der PISA-Studie), der Diskussion um Fördermaßnahmen in Verbindung mit dem neuen Zuwanderergesetz auf der anderen Seite. Sie zeigen sehr deutlich, in welchem Ausmaß diese Kinder, die im schulischen Bereich zu der schwierigsten Gruppe gerechnet werden, sich entgegen dem Anschein die Bedingungen des Einwanderungslandes aneignen. Besonders sinnfällig wird das, wenn diese Kinder versuchen, ihre muttersprachlichen Texte in arabischer Schrift zu verschriften: Auch in einer solchen "exotischen" Form orientieren diese Kinder sich in Deutschland dabei an der Struktur des deutschen Schriftsystems, während die gleichaltrigen Kinder in Marokko sich selbstverständlich an dem strukturell ganz anderen arabischen Schriftsystem orientieren, sodaß die schriftliche Form ihrer Texte sich erheblich unterscheidet. Die exotischen arabischen Schriftformen maskieren hier die unterschiedliche kulturelle Haltung: bei den Kindern in Deutschland ihren Schritt zur Integration in die deutsche Kultur.

Dieser Integrationsanstrengung steht nun aber gegenüber, daß die Leistungen dieser Kinder sich z.T. sehr dramatisch von denen der gleichaltrigen muttersprachlichen Kinder in den deutschen Schulen unterscheiden, was auch den statistisch gesehen extrem geringen Schulerfolg gerade dieser Schüler erklärt. Offensichtlich ist das schulische System nicht darauf vorbereitet, die Leistungen dieser Kinder zu honorieren und ihnen eine entsprechende Förderung zukommen zu lassen, die sie dem von ihnen angestrebten Ziel, dem Erwerb schriftkultureller Kenntnisse, näher bringt. Eine solche Förderung setzt allerdings ein diagnostisches Instrument voraus, mit dem derartige Leistungen überhaupt erst sichtbar werden. Ein solches Instrument fehlt gerade im schulischen Kontext bisher weitgehend, wo pädagogisch gut gemeinte interkulturelle Aktivitäten im Vordergrund stehen, nicht aber eine entsprechend qualifizierte sprachliche Förderung, die die spezifischen Ressourcen dieser Kinder zu nutzen versteht. Diesen Aspekten ist, wie PISA gezeigt hat, ohnehin in der Lehrerausbildung eine größerer Stellenwert einzuräumen. Dagegen steht allerdings nicht nur eine verbreitete Sperre gegenüber einer derartig anspruchsvollen pädagogischen Arbeit, sondern auch die traditionelle Ausrichtung der sprachwissenschaftlichen Forschung auf die gesprochene Sprache. Die Projektergebnisse (die in dem neuen Projekt mit einer Untersuchung in Marokko fortgeführt werden sollen) nötigen hier zu einer Korrektur. Zu erforschen ist der Zugang zu den schriftkulturelle Fertigkeiten, die, wie es diese Kinder offensichtlich spontan für sich selbst richtig sehen, Voraussetzung für eine erfolgreiche Teilhabe an dieser Gesellschaft sind. Auf der Grundlage solcher Forschungen sollte dann auch eine entsprechende schulische Förderung möglich werden (in den Schulen in Deutschland wie in Marokko), auf die diese Kinder allerdings angewiesen sind.

Die Ergebnisse des ersten Projektes wurden an einem als besonders schwierig eingeschätzten Fall der deutschen Schulwirklichkeit gewonnen; insofern können sie exemplarisch genommen und über die Gruppe marokkanischer Schüler hinaus verallgemeinert werden. Daher werden die Befunde derzeit auch so aufbereitet, daß sie für ein breiteres, vor allem auch pädagogisch interessierteres Publikum lesbar und nutzbar werden. Ihre Publikation in Buchform ist für Anfang 2003 in der Schriftenreihe des IMIS vorgesehen."